Wann sie helfen, wie sie schaden könnenDie Wahrheit über unsere Medikamente

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Bei rezeptfreien Präparaten legten die Versandapotheken im Corona-Jahr 2020 um 12 Prozent zu. Doch mangelnde Beratung kann bisweilen fatale Folgen haben. 

Köln – Wer weiß schon, dass Ibuprofen in der falschen Kombi tödlich sein kann? Dass Johanniskraut die Wirkung der Pille abschwächt? Dass in pflanzlichen Arzneimitteln mehr Chemie steckt als in synthetischen? Oder dass teure Basenbäder die Haut eher zerstören als seidig glatt zu machen?

  • Apotheker rechnet auf Social Media mit Pharmaindustrie und Kollegen hab
  • Mythen rund um die Einnahme von Pillen
  • Sind pflanzliche Mittel wirklich natürlicher?

Unter #DerApotheker rechnet ein Mann mit mundfaulen Ärzten, Heilpraktikern und seinem eigenen Berufsstand ab. Zehntausende folgen dem Blogger mittlerweile auf Instagram, Twitter und Co.

Medikamente im Check: Globuli und Co. machen wütend

Globuli für den Dackel, Rescue-Tropfen für die Psyche und alle Schüßler-Salze gegen Haarausfall sind ihm ein Dorn im Auge. Aber all das gehört mittlerweile zum Standardprogramm in Apotheken. „Leider bieten Apotheken viel zu viele Medikamente an, die keine nachgewiesene Wirkung haben. Ich wünschte, es wäre anders“, sagt der Pharmazeut, der seit zehn Jahren seinen Beruf ausübt, im Gespräch mit dem EXPRESS. Weil er sein Privatleben nicht mit seinem Job vermischen will, bleibt er lieber anonym.

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In seinem aktuellen Buch „Die Wahrheit über unsere Medikamente“ (Lübbe life, 12,90 Euro) schildert er frappierende Fälle aus seiner Praxis, die bei mangelnder Aufklärung tödlich enden können, nur Geld aus der Tasche ziehen oder die Umwelt belasten, ohne dass es die meisten wissen.

Johanniskraut verträgt sich nicht unbedingt mit der Antibabypille. „Pflanzlich heißt nicht, dass es keine Wechsel- und Nebenwirkungen haben kann“, betont der Fachmann. Das Kraut, das Ärzte gern bei leichten Depressionen verschreiben und das frei verkäuflich im Handel zu erwerben sei, reduziere den Schutz der Pille.

Viele Menschen nehmen täglich ASS 100 zur Blutverdünnung. Soweit okay, doch wenn man gleichzeitig Schmerzen habe und mehr als eine Ibuprofen nehme, werde die Wirkung des Blutverdünners aufgehoben. Der Apotheker: „Herzinfarkt, Lungenembolie oder ein Schlaganfall könnten die Folge sein.“

Die Wirkung der meisten pflanzlichen Arzneimitteln sei unbestritten, sagt er. Aber: Auch hier kommt es auf die richtige Einnahme an. „Baldrianprodukte, um besser zu schlafen, entfalten z. B. erst nach zweiwöchiger Einnahme eine Wirkung.“ Alles andere sei nur Placeboeffekt. Den sieht er auch bei all den homöopathischen Kügelchen. „Wenn Menschen daran glauben und bei harmlosen Wehwehchen dafür Geld ausgeben wollen, kann ich ihnen nicht helfen. Wenn sich jedoch Krebskranke damit von der Medizin abwenden, riskieren sie ihr Leben.“

Apropos pflanzlich: „Viele Kunden bestehen auf pflanzliche Produkte, weil sie denken, dass die weniger Chemie enthalten. Das stimmt aber nicht“, räumt der Apotheker mit einem Mythos auf. „Arzneimittel aus dem Labor enthalten meistens nur einen einzigen isolierten Wirkstoff, pflanzliche Medikamente hingegen ein Wirkstoffgemisch.“

Simvastatin ist ein gängiges Medikament, um den Cholesterinspiegel zu senken. „Oft sagen Kunden, dass sie das schon seit 20 Jahren nehmen.“ Aber keiner habe sie aufgeklärt, dass man bei diesem Medikament konsequent auf Grapefruitprodukte verzichten müsse. „Schluckt man 40 Milligramm Simvastatin und hat ein, zwei Tage zuvor Grapefruitsaft getrunken, wäre das im schlimmsten Fall so, als habe man sieben 40-Milligramm-Tabletten auf einmal geschluckt. Die Folge: Muskelabbau, Nierenschädigungen, bis hin zum Tod. Orangen seien unbedenklich.

Einmal Nasenspray, immer Nasenspray? „Wendet man abschwellende Nasensprays länger als eine Woche an, kommt es zum schnelleren Anschwellen der Nasenschleimhaut.“ Wenn Kunden ihn nach dem billigsten Spray fragen, wisse er schon Bescheid: „Die können nicht mehr ohne.“ Die Gefahr jedoch: Günstige Sprays enthalten meist Benzalkoniumchlorid – das töte aber nicht nur Keime ab, sondern schädige auf Dauer auch die Nasenschleimhaut. Tipp: „Nach konservierungsmittelfreien Sprays fragen.“

Viele Vitamine helfen viel? Von wegen. Die Nachfrage nach Multivitaminpräparaten sei groß, weiß der Apotheker. Und damit lässt sich ein gutes Geschäft machen. Er rät seinen Kunden dennoch davon ab. Bei den fettlöslichen Vitaminen (Eselsbrücke EDEKA) könne eine Überdosierung – vor allem von Vitamin A und D – zu gravierenden Gesundheitsschäden führen. Besser: „Ein Blutbild beim Arzt machen lassen – und dann Vitamine gezielt auswählen.“

Ein Satz, den viele kennen: Antibiotika niemals zusammen mit Milch einnehmen. Der Apotheker: „Stimmt so nicht. Die meisten Antibiotika vertragen sich mit Milch.“ Ausnahme: Diejenigen mit Wirkstoffen der Tetracycline und Fluorchinolone (am bekanntesten sind Doxycyclin, Minocyclin und Ciproflaxacin). Da sorge das in der Milch enthaltene Calcium dafür, dass weniger Antibiotika aufgenommen wird.

Von diesen Produkten rät der Apotheker ebenfalls ab:

  • Basenprodukte seien überflüssig, weil das Blut über eigene Puffersysteme verfüge, die den pH-Wert konstant halten. Und Basenbäder würden die Haut nur angreifen: Besser: pH-neutrale Duschgels.
  • Abnehmtabletten seien meist „ihr Geld nicht wert“, weil die Fettbinder nur eine geringe Wirkung hätten.
  • Wer die Umwelt schützen wolle, solle das Schmerzgel Diclofenac nicht kaufen. „Selbst die schwedische Arzneimittelkommission rate seit 2019 davon ab, weil es beim Händewaschen ins Trinkwasser gelange – und nachweislich zu Nierenschäden bei Fischen geführt habe.
  • Auch Schleimlöser bei Husten seien meist überflüssig, wenn man auf die ausreichende Trinkmenge achte. Wer anhaltend unter trockenem Reizhusten leide und den Blutdrucksenker Ramipril oder einen anderen ACE-Hemmer nehme, sollte lieber seinen Arzt kontaktieren. „Das Medikament führt bei zehn Prozent der Patienten zu Reizhusten.“
  • Kombipräparate bei Erkältungen seien vor allem bei Menschen mit hohem Blutdruck nicht zu empfehlen. Außerdem habe man meistens nicht alle Symptome, gegen die das Mittel wirken soll.